Der Lungenfisch unter den Rüsseltieren1
Vier convex tv.-Experimente, die das Radiokorsett ablegten
Micz Flor | convex tv.–dokumentation | 10. Dezember 2019
convex tv. versteht man umfänglich dann, wenn man die Spalte ausleuchtet, auf der es entstand. Der Versuch, convex tv.-Beiträge ausschließlich als Radioproduktionen zu konsumieren, ermüdet. Was ist also diese Verwerfung, Spalte, Dehnungszone, dieser Graben in den late 1990s, über die und über den convex tv. sein geschmeidiges Fundament gegossen hat?
Auf der vergangenen Seite dieses Grabens2 war die Digitalisierung der meisten verfügbaren Medienformate schon abgeschlossen. Auf der anderen Seite hatte die Vernetzung digitaler Medien noch nicht wirklich begonnen. Zwei riesige medientektonische Platten, die sich in den 1990er Jahren aneinander rieben und Gebirge schufen, die wir heutzutage alle in der Hosentasche mit uns tragen.Diese Überführung des Digitalen in das Vernetzte war kein kontinuierlicher technischer, soziologischer oder intrapsychischer Prozess, sondern asynchron und brüchig, neue Verwerfungen schaffend, die Gruppen und Identitäten auch voneinander entfernen konnten. Die folgenden beiden Punkte – genau wie convex tv. aus der Mitte / zweiten Hälfte der 1990er Jahre stammend – sollen dies illustrieren.
Schon 1995 wurde Internet addiction disorder von Kimberly S. Young3 als Begriff geprägt. Bis heute erscheint dieser nicht in diagnostischen Manualen4, obwohl das Syndrom heute schon Suchtstationen in Psychiatrien beschäftigt.
Noch 1999 berichtete mir jemand in Wien, dass im ORF einige aus der älteren Riege der Schnittmeister/innen im Radio sich weigerten, digitale Werkzeuge zu erlernen und so dank Kündigungsschutzes ohne Arbeit zwischen ihren Magnetbandschnipseln5 saßen. 6
convex tv. entstand zwischen zwei Realitäten, am Ende der Digitalisierung und am Anfang der Vernetzung. Deshalb der Lungenfisch im Titel (aus dem Wasser kommend, Vorfahr der Landwirbeltiere, in seiner Art und Natur zwischen den Welten).
In diesem Zwischenraum gibt es Handlungssicherheit für das eine oder andere, wenige Vorlagen jedoch für den Umgang mit beidem. Wir wollten Medien an diesem Punkt nicht nur inhaltlich gestalten, sondern auch formal, strukturell. Dabei wirkten soziale und technische Strukturen immer aufeinander ein. Wenn wir alles zusammenwerfen und umrühren, welche neuen Erfahrungen können wir generieren?
convex tv. unternahm eine Reihe von Experimenten7. Vier davon möchte ich hier vorstellen, so wie ich sie erlebt habe. Mehr als das Summen seiner Teile ist das Ganze.
HTML DJing: medienübergreifender Second Screen der 1990er8
Die Radiofrequenz wurde uns geschenkt. Alles im (noch) jungen www haben wir uns ausgedacht und erarbeitet.
Was passiert, wenn wir die Räume aus Text und Ton übereinander legen?
Im akustischen Raum können wir uns bewegen. Text schafft einen Raum, in dem wir uns nicht bewegen können. Radio ist ein Medium, das begleitet. Text ist ein Medium, das bindet.
Im Hypertext, diesem damals neuen .htm mit seinen Verlinkungen, war die Bewegung zwischen den Texten technisch angelegt.
So entstand die Idee des sog. convex tv. plug in, das an anderer Stelle (in Ulrich Gutmairs Text) detaillierter und mit Textauszügen beschrieben wird.
Jetzt konnte man sich nicht nur radiohörend beim Abspülen in den eigenen Gedanken verlieren. Auch im Text, im Internet konnte man den Sendeplatz mittels Texts verlassen, indem man Link für Link den Faden verlor, gelegte Spuren verfolgte. Immersive Welten zwischen den Medien.
In der Praxis wurde das ganze sehr primitiv umgesetzt. Frühjahr 1997; Florian Clauß und ich sitzen in meiner Küche am Kühlschrank, auf dem der Laptop steht. Wir schieben vorgefertigte HTML-Seiten parallel zur live im Radio zu hörenden Sendung manuell per FTP auf den Server. Ein Ohr am Radio, eine Hand an der Maus. Wir in der Mitte als Wetware. Eine Mensch-Medien-Maschine-Kopplung, die auch heute noch bei Amazons Alexa zur Anwendung kommt. Um Mythenbildung zu erden: Wie oft wir dieses hybride Set-up wirklich durchzogen, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich bei jeder Sendung am Kühlschrank saß. Vermutlich brach diese Praxis bald nach dem Moment ab, als wir per RealAudio live streamten, irgendwann später im gleichen Jahr.
Stereo als wundersame Zeitvermehrung
Wir spielten auch immer wieder mit den technischen Rahmenbedingungen und Gegebenheiten. Klang wird seit Jahrzehnten in Stereo aufgenommen und wiedergegeben? Dann könne wir ja zwei Sendungen in einer versenden! Die eine auf dem rechten, die andere auf dem linken Kanal. Die Sendeleitung verstand das nicht, glaubte an einen Fehler und verdoppelte den einen der beiden Stereokanäle, bis wir anriefen und bestätigten, dass es anders seine Richtigkeit habe.9
Sendezeit im deutschen Radio war damals kulturell sehr wertvoll. Das muss ich mir selber in Erinnerung rufen, denn heute ist das nicht mehr der Fall.
Der anarchische DIY-Impuls, Medienräume auszutesten, auszuweiten, umzudeuten, hat eine lange Geschichte. Beispielhaft die Geschichte des UKW-Rundfunks: Hobbyisten der Nachkriegszeit10 erschlossen und besetzten die Frequenzmodulation des UKW-Bereichs11.
Mit dem gleichen Spirit wurden immer wieder auch die Grenzen zwischen Medien aufgelöst. Der niederländische Sender NOS sendete als erster 1979/80 in seiner Sendung Hobbyscoop12 Computerprogramme über regionale Radiofrequenzen. Dabei nutzte man den Umstand, dass viele Computer ihren Code als Sound speicherten (z. B. Commodore PET, Apple II, später ZX Spectrum, C64). Die Idee war so erfolgreich, dass sogar die BBC die Sendung Chip Shop13 mit dem gleichen technischen Kniff ins Leben rief.
Im UK-Fernsehen der 1990er Jahre gab es eine Sendung über Computerspiele, die kurz vor Schluss den Hinweis gab „jetzt ,Aufnahme’ am Videorekorder drücken". Denn in den Abspann wurde unglaublich viel Text-Information gepackt – in jedem Frame (über 20 pro Sekunde) wurde Text gesendet. Später konnte man in VHS-Einzelbildern Cheats, Walkthroughs, Infos, Tipps nachlesen, die den Rahmen der Sendezeit gesprengt hätten.
Gerne möchte ich unseren Life Hack (aka live-Hack) in diese Ahnengalerie einreihen. Die Stereospuren zu trennen, um die Sendezeit zu verdoppeln, funktioniert im UKW-Radio gut. Als Stream im Netz ist die Kanaltrennung seit der Erfindung des joint-stereo nicht so sauber14. (Übrigens: Entlang des Konzepts Stereo entfaltet sich eine fesselnde Audiotechnik-Geschichte. Die Mechanik des Vinyls, die Geschwindigkeit und der Platz bei Magnetbändern, die Dateigröße, die Rechenleistung, die Bandbreite. Das Pendel zwischen Qualität und Kompression als innovatives Machtspiel von Genuss und Effizienz. Die Aufnahmetechnik-Geschichte des Stereo ist 2031 100 Jahre alt15).
German Schwarzsender: rhizomatisch den Fußabruck erweitern16
Irgendwie hat convex tv. es dann über Umwege und Hintertüren bis in den Hybrid WorkSpace auf der documenta X geschafft. Verdientermaßen, wie ich finde. Und wir hatten dort eine gute Zeit, eine gute Show und gleichermaßen guten Input wie Output.
Der German Schwarzsender war ein Hackshop, ein Lötfest, ein DIY-Spaß, den auch Ulrich Gutmair in seinem Text detaillierter beschreibt. Ich möchte gerne den aktivistischen Kern noch mal rausschälen, den wir mit dieser Projektbeschreibung aufspannten:
Basierend auf einer Reihe von Sendern mit geringer Reichweite, erstellte convex tv. vom 27.8.–1.9. während seines Aufenthalts auf der documenta X in Kassel ein dezentrales, sich selbst organisierendes Netzwerk aus ca. 200 Radiosendern und -empfängern, innerhalb dessen – so die Devise – jeder jederzeit senden kann. Die Frage nach dezentralen Netzwerken ist in letzter Zeit im Zusammenhang mit der Entwicklung des Internet wieder aufgekommen. convex tv. möchte das Radio in die Debatte einbeziehen.17
Jede/r hat einen Radioempfänger, kaum jemand einen Radiosender. Mini-FM-Sender, die wir zusammen mit dem Publikum löteten, sollten in der Stadt verteilt mit Radioempfängern verbunden werden. Wenn jede/r auf einer leicht anderen Frequenz sendet, als empfängt, breitet sich der Fußabruck filigran und rhizomatisch aus.
So unterwandert das Rhizom den Baum in seinem eigenen Schatten.18 Viele kleine Sender erreichen genauso viele Menschen wie wenige große. Und diese kleinen Sender löteten wir zusammen mit Besucher/innen in der Orangerie. Persönliche Radioanekdoten, Diskussionen über die Verhältnismäßigkeit der Strafen für Piratenradios sowie spirituellere Fragen, ob z. B. elektromagnetische Frequenzbereiche überhaupt „Besitz" sein könnten, haben den Workshop erfüllt.
Hinter der Orangerie experimentierten wir mit unserem dezentralen Netz. Unser im obigen Text beschriebenes Ziel haben wir nie erreicht. Paradoxerweise stellten wir bald fest, dass wir mehr Sender als Empfänger hatten.
Encoder Loop: eine Kathedrale sequentieller Stream-Relays19
Am 23. Mai 1998 saßen ab 21 Uhr Publikum und Künstler/innen zusammen in einem halbdunklen Raum in Luzern. Pauline van Mourik Broekman, damals Mitherausgeberin der Londoner Zeitschrift mute, war auch dabei. Inhaltlich kann ich mich nicht an viel erinnern. Atmosphärisch habe ich den Abend aber auch jetzt noch sehr präsent.
Ich fühlte mich wie in einer Zeitmaschine, in der die Vergangenheit die Gegenwart mit einem besseren Sound überholt. Im Raum kamen unsere Gespräche mit halbminütiger Verzögerung wieder bei uns an. Auf dem Weg durch das Internet gesellten sich andere Orte, Stimmen und Atmosphären dazu. All dies war immer die Vergangenheit, spürbar vergangen, nicht wie ein Echo. Zusammen sorgten sich alle mit ihrer Stimme und mit dem Finger am Mixer darum, dass der Encoder Loop nicht im Feedback unterging.
Was im Raum passierte, wurde als Audiostream über das Internet geschickt. Streams haben einen Buffer, der dafür sorgen soll, dass am anderen Ende keine Lücken, kein Stottern entsteht, sollte das Internet einmal nicht so flüssig laufen. Deswegen kommt es zu Verzögerungen, damals bis zu zehn Sekunden.
Den Audiostream aus Luzern empfingen „backspace" (London) im Mixer. backspace konnten live andere Quellen (Mikro, Musik, name it) hinzu mischen und den Stream dann wieder weiterschicken. Diesen Stream nahm e-lab (Riga) auf und schickte den Mix gleichermaßen angereichert ins Netz. Das Ergebnis kam bei uns in Luzern an und wurde über die Lautsprecher im Raum abgespielt. Encoder Loop. Das war das initiale Set-up.
Das Signal war also Teil eines Feedback Loops, dessen Signal mit ca. 30 Sekunden Verzögerung wieder in der Quelle eingespeist wurde. Ein seeeeehr langsamer Feedback Loop.
Zusätzlich wollten wir im Laufe des Abends den „Encoder Loop" erweitern. In einem Mailout luden wir ein, sich live in die Schleife einzuklinken. Jedes neue Glied in der Kette musste sich beim Einreihen im live-Chat mit zwei Kontakten absprechen: darüber, welcher Stream aufgenommen wird und unter welcher Adresse das (neue) Signal wieder abgegriffen werden kann.
Jetzt fällt mir doch noch etwas Inhaltliches ein: Während dieses Abends lernte ich Christoph Kummerer kennen, der sich aus Wien einklinkte. Gesagt hat er gar nichts, aber seine Wirksamkeit bestand aus noch mal zusätzlichen zehn Sekunden Verzögerung. Seeeeehr langsamen zusätzlichen zehn Sekunden.
Der Titel verweist auf einen assoziativ gelockerten convex tv.-Abend, an dem Martin Conrads (meiner Erinnerung nach) den Satz „Straßenlaternen sind die Zwiebeln der Lüfte" einbrachte.↩︎
Fun fact: in der Geologie heißt das Pendant zum Graben „Horst“. Florian Clauß sagte gerne statt „localhost” „localhorst". Zufall oder anekdotisches Beweisstück?↩︎
„As early as 1995 (…) [Kimberly S. Young] started publishing articles (…) on the topic of Internet addiction. In the same year, she also established the Center for Internet Addiction." https://www.researchgate.net/publication/332115299_In_memory_of_Dr_Kimberly_S_Young_The_story_of_a_pioneer (zuletzt abgerufen am 25.10.2019)↩︎
Siehe dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Internetabh%C3%A4ngigkeit#Begrifflichkeit (zuletzt abgerufen am 25.10.2019)↩︎
Wer nicht weiß, wovon ich rede, hier eine Anleitung: https://www.studerundrevox.de/info-wissenswert/wissenswert/tonband-schneiden/ (zuletzt abgerufen am 25.10.2019)↩︎
convex tv.'s Martin Conrads gibt in seiner Arbeit „Dr. M's gesammeltes Schweigen (Augsburg Mix)" einen akustischen Eindruck von dem, was früher an Schmatzern und Atmern aus Magnetbändern gecuttet wurde. https://soundcloud.com/desperatecapital/dr-ms-gesammeltes-schweigen (zuletzt abgerufen am 28.11.2019)↩︎
Ein interner Witz: „gelungen!"↩︎
HTML DJing klingt heute sehr nach den 1990ern.↩︎
Der erste, fix-und-fertige Absatz stammt 1:1 von Ulrich Gutmair, der mir am 24.10.2019 um 00:03 dazu schrieb: „Hatte ich gerade so in meinem Text formuliert, passt aber viel besser in den Text, den du noch viel besser geschrieben haben wirst."↩︎
„Nicht zuletzt machten es der wirtschaftliche Aufschwung und der Forschungsdrang vieler Funkamateure möglich, diese neue Welt der UKW-Frequenzen zu erobern." http://wiki.oevsv.at/index.php/Geschichte_UKW_Funk (zuletzt abgerufen am 30.10.2019)↩︎
„Nach dem Kopenhagener Wellenplan erhielten die Verlierer-Staaten nur sehr wenige, ungünstige Frequenzen im Mittelwellenbereich zugeteilt." https://de.wikipedia.org/wiki/UKW-Rundfunk#Geschichte (zuletzt abgerufen am 30.10.2019)↩︎
Mehr über die Geschichte von Chip Shop findet sich unter http://www.sincuser.f9.co.uk/024/news.htm (Link über archive.org aufrufen!)↩︎
„Die wiederholte Beschreibung gemeinsamer Inhalte wird vermieden, indem in einen Kanal nur die Information über den Unterschied zu einem vorhandenen Kanal oder zu einem neuen Mittenkanal geschrieben wird." https://de.wikipedia.org/wiki/Kanalkopplung (zuletzt abgerufen am 30.10.2019)↩︎
https://ethw.org/Alan_Dower_Blumlein (zuletzt abgerufen am 30.10.2019)↩︎
27.08.–02.09.1997, Hybrid WorkSpace, documenta X.↩︎
Text auf http://www.medienkunstnetz.de/werke/german-schwarzsender/ (zuletzt abgerufen am 25.10.2019). Das in dem Text genannte Datum ist nicht korrekt (vgl. Fußnote xvi).↩︎
Dieses Konzept dezentraler und distribuierter Netze liegt mir bis heute sehr am Herzen. Ich habe das später auch als Medienentwickler verfolgt, z. B. in Nepal: https://archive.org/details/Scattered_Frequencies_Nepal_palvcd↩︎
23.05.1998, VIPER festival, Luzern, Schweiz. Mehr zum Projekt auf http://www.art-bag.org/convextv/pro/viper/xmail.htm (zuletzt abgerufen am 25.10.2019)↩︎