Meine Schlange und ich

von Micz Flor | taz - die tageszeitung | 12. Januar 2013

THEATER „Ihre Version des Spiels“ mit Corinna Harfouch im Deutschen Theater ist ein Hit. Am Samstag bildet sich die Schlange des Vorverkaufs, dirigiert von Peter Schmeißer

Ich mache das nicht mehr oft: Schlange stehen für Karten im Vorverkauf. Das mache ich lieber per Telefon oder Internet

„Wenn Sie wegen der Reza hier sind, mache ich Ihnen wenig Hoffnung!“ Es ist Anfang November, ich stehe im Eingangsbereich des Deutschen Theaters. In der Schlange. Ich bin wegen der Harfouch hier und mache mir jetzt Sorgen. Ich brauche zwei Karten für „Ihre Version des Spiels“ von Yasmina Reza mit Corinna Harfouch in der Hauptrolle. Ich bin früh aufgebrochen (nicht früh genug!), habe den kalten, klaren Morgen sehr genossen. Auch den Weg hierher.

Doch schon in der Albrechtstraße sehe ich fünf, sechs Personen, die in Richtung Vorverkauf schnürln. Wir beschleunigen unmerklich unseren Schritt, wie Asteroiden, eingefangen von der Schwerkraft der Sonne. Die Harfouch. Deshalb bin ich hier. Und wegen des 70. Geburtstages meiner Mutter, die zu Besuch kommt und am Telefon meinte: „Auf Theater hätte ich mal wieder Lust.“ Das wird eine Riesenüberraschung, dachte ich.

Die Schlange und ich stehen verschlungen und gefaltet, Treppe rauf, Treppe runter, alle im Foyer. In 30 Minuten beginnt der Vorverkauf für Dezember. „Das ist noch gar nichts. Ich kann mich noch erinnern, da ging die Schlange raus über den Vorplatz, die Schumannstraße lang und dann im 90-Grad-Winkel bis in die Luisenstraße“, erzählt Peter Schmeißer, der seit 1984 beim Deutschen Theater arbeitet. Das war etwa vor fünf Jahren: „Da lief Virginia Woolf von Gosch, die Matinee mit Gysi ging gerade los, ich glaube ‚Onkel Wanja‘ war im Programm, und dann noch der Run auf ‚Faust‘ – der erste Teil, beim zweiten war die Nachfrage nicht so groß.“

Ich mache das nicht mehr oft: Schlange stehen für Karten im Vorverkauf. Das mache ich lieber per Telefon oder Internet. Aber am Telefon sagte man mir, dass sicher keine Karten mehr im Internet zu haben sind. Die besseren Chancen haben wir hier in der Schlange, aber auch die sind „für die Reza“ verschwindend gering. „Wir machen da vier Häufchen, eins für den vorgezogenen Vorverkauf am Dienstag für die Mitglieder des Fördervereins, eins für Mittwoch für die mit dt-Karte, dann für schriftliche Vorbestellungen und ein kleines Häufchen geht in den regulären Vorverkauf, für die, die hier sind“, sagt Peter Schmeißer.

Peter Schmeißer ist ein „Urgestein“, wie ihn eine Kollegin an der Kasse beschreibt. Noch vor dem Mauerfall ist er als „Seiteneinsteiger“ zum Deutschen Theater gekommen. Der Diplom-Ingenieur für chemische Verfahrenstechnik hatte Glück: Er wollte sein Leben verändern, ist nach Berlin gezogen. Zur gleichen Zeit bekam das Theater Druck von oben, einen „Energiewirtschaftler“ einzustellen. Lebenslauf, Ausbildung und Wünsche passen selten so gut zusammen wie für den 32-jährigen Ingenieur, der seit seinem Wechsel zum Theater schon fast alles im Haus gemacht hat, bis hin zur Regieassistenz. Jetzt steht Peter Schmeißer im Foyer, ist beim Besucherservice und unterhält und informiert uns bestens. Aber Tickets bekomme ich an diesem Tag nicht mehr.

Inzwischen ist es Mitte Dezember. Ich schlendere durch den Schneematsch zum Deutschen Theater, um meine Karten abzuholen. Heute bin ich ganz allein im Foyer, um ein Presseticket und eine sogenannte Steuerkarte abzuholen, die ich ergattern konnte – wegen der Schlange, die ein Thema für sich geworden ist, was die Frau am Schalter bestätigt, als sie mir die Karten überreicht: „Schreiben Sie mal was über den Vorverkauf! In der Schlange hier sind schon Beziehungen fürs Leben geschlossen worden.“ Der Verkauf über Internet hat hier im Haus wenig Freunde, scheint es.

Auf dem Weg nach draußen treffe ich dann doch noch jemanden. Sie steht unter dem Vordach, zwei Tickets in einer Hand, einen Schirm in der anderen. Sie hat zwei Karten für die Matinee „Gregor Gysi trifft Helge Schneider“ Sonntagvormittag anzubieten. Auch ausverkauft! Weil ich schon mal hier bin, nehme ich die auch noch gleich mit.

Und dann endlich der Theaterabend. „Ihre Version des Spiels“ von Yasmina Reza mit Corinna Harfouch in der Hauptrolle. Meine Mutter, ich und meine Bekannten aus der Schlange stehen zum Beginn des Stücks selbst auf der Bühne. Ich kann mich an keines der Gesichter erinnern. Wir sehen den beleuchteten Raum hinter der Bühne und den Zuschauerraum. So beginnt das Stück, mit uns auf der Bühne, aber ich bin in Gedanken in der Schinkelausstellung im Kupferstichkabinett, die sich meine Mutter auch ansehen wollte. Das passt so gut, freue ich mich: Da haben wir doch gesehen, wie Schinkel sich das Theater der Zukunft vorgestellt hat. Auf den architektonischen Querschnitten zeigte sich ein mächtiger Bühnenraum.

Dann sitzen wir im Halbkreis auf der Bühne, wie in einer Mehrzweckhalle. Meine Schlange und ich. Noch nie habe ich so oft ins Publikum geblickt wie an diesem Abend. Wer gehört zu welchem Häufchen, die das dt aus den Karten macht? Die Aufführung hat mir großen Spaß gemacht, meiner Mutter auch. Wir haben uns noch lange darüber unterhalten, an der Bar im Theater. Ohne Corinna Harfouch wäre das ein ganz anderes Stück, meint sie. Die Besetzung ist Teil der Faszination, will man doch auch ein bisschen Privates von der Schauspielerin kennen lernen, die in „Ihre Version des Spiels“ eine Autorin spielt, welche sich vehement gegen eine biografische Interpretation ihrer Arbeit wehrt. Ohne Star-Appeal wäre das ein völlig anderes Stück. Es hat sich also gelohnt, das Schlangestehen: Kauft Tickets in den Foyers der Theater! Oder mit den Worten des überzeugenden Alexander Khuon in der Rolle des Provinzveranstalters Roland Boulanger gesprochen: „Der Raum gehört ganz Ihnen, lassen Sie sich von ihm inspirieren.“