Psychodynamik in der Gitarrenwerkstatt
Einleitung (Teil 1 von 8)
Betrachtet man die aktuellen Schäden einer Gitarre vor dem Hintergrund ihrer Biographie, entsteht fast nebenbei ein Verständnis, wie man einen Bericht für eine Psychotherapie schreibt. Aus der Recherche wird eine Anamnese, die mit Phantasie und Leichtigkeit alle notwendigen Schritte einer schlüssigen Psychodynamik erfasst.
Die gerissene Decke als Konfliktstörung
Um die Gitarre zu reparieren, brauche ich nur Leim, Furnier, Magnete, Unterlegscheiben, eine Schere und später noch etwas Sekundenkleber. Ich brauche keine umfassende Psychodynamik von Konfliktstörungen für das Instrument. Doch genau dazu ist es gekommen und davon handelt dieses Dokument.
Meine Gitarre wurde mir als reperaturbedürftig und Deko in einer Auktion vorgestellt. Ich habe mich sofort in das Instrument verliebt. €22,50 war das letzte Angebot - meins. Als ich mein Instrument endlich in den Händen hielt, wusste ich sofort:
Ja! Ich bin verliebt in diese schlichte, kleine Gitarre. Ich mag auch die Größe, die seit ein paar Jahren auch wieder neu als “Parlor-Gitarre” angeboten wird. Der Blues sei auf diesen mit Stahlsaiten bestückten “Kindergitarren” erfunden worden. Doch meine Gitarre strahlt eher Biedermeier aus als Blues.
Ja! Die Gitarre ist wirklich reperaturbedürftig und Deko. Auf der Decke zähle ich zwölf Risse. Einige davon so breit, dass man eine Messerklinge durchschieben kann. Im Boden ist ein langer Riss, der aussieht als habe ein Säbel die Gitarre von hinten angesprungen.
Es waren aber die Risse in der Decke, die mich zum Grübeln brachten.
Risse in der Decke einer alten Gitarre sind nichts besonderes. Denn die Decke ist aus einem Stück Klangholz geschnitten und dünn, damit sie gut schwingt. Verstärkt ist das Holz nur durch dünne Streben (Bracing).
Wenn die Decke über die Jahre trocknet, dann zieht sich das Klangholz zusammen. Die Maserung ist parallel zu den aufgezogenen Saiten. Beim Trocknen zieht sich das Holz deshalb von beiden Seiten in Richtung Schalloch, die Länge bleibt unverändert.
Bei teuren Instrumenten ist das Klangholz gut durchgetrocknet und verzieht sich kaum. In seltenen Fällen kann es schon mal zu einem Riss kommen. Aber zwölf? Und wenn das Holz sehr stark arbeitet, dann reißt sich die Decke in der Regel auch von der Zarge (den Seitenwänden) los, denn dort ist der Leim über die Jahre auch schwächer geworden.
Was war denn beim Bau meiner Gitarre los, dass ihre Decke so stark arbeitet? Was hat die Gitarre erleben müssen, dass sie zwölf so tiefe Risse bekam?
Und warum hält die Verleimung der Zargen immer noch bombig?
Fragen über Fragen, die alle auf frühe Störungen hinzuweisen scheinen. Was lief schief beim Bau der Gitarre und Auswahl der Materialien?
Unmerklich übernahm der Psychologe in mir die Zügel und ich begann wie ein Psychotherapeut über frühe Störungen bei der Herstellung und das Selbstverständnis der Instrumentenbauer/innen zu brüten - und nicht über Klangholz und Knochenleim. Ich begann sozusagen eine Fremd-Anamnese für meine Gitarre. Das bedeutet: ich recherchiere und schreibe zusammen, was ich finde, denn meine Gitarre kann ich nicht fragen, die spricht nicht mit mir.
So begann ich mich in das Leben des Instruments hineinzufühlen, wollte mehr wissen über die Ätiologie dieser Risse, also die zugrunde liegenden ursächlichen Zusammenhänge. Und von da war es nur ein kleiner Schritt die ganze Klaviatur abzuleiten: die Erstellung einer umfassenden Psychodynamik von Konfliktstörungen1. Die einzelnen Kapitel spiegeln die folgenden sieben Schritte2 wider:
- Frühe Biografie
- Ungelöster Grundkonflikt
- Neurosenstruktur (als Störungsdisposition)
- Kompensation
- Aktueller Auslöser
- Das Kernstück: aktuell wirksamer, unbewusster Konflikt (AWUK)
- Symptome (eigentlich psychischer Natur, hier wohl eher somatisch, wenn man die Analogie weiter strapazieren möchte)
Vor mir liegt also eine Gitarre, mit der ich zwei Dinge vorhabe:
- Ich möchte sie reparieren.3
- Gleichzeitig möchte ich anhand der Geschichte und Verfassung meiner Gitarre die “Psychodynamik von Konfliktstörungen” verdeutlichen - ziemlich genau so, wie bei einem Antrag auf Psychotherapie.4
Und jetzt geht es los mit der frühen Biographie - der Entstehungsgeschichte meiner Gitarre.
Die Psychodynamik von Konflikstörungen erstelle ich so, wie für einen Bericht an den/die Gutachter/in, um eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP) zu beantragen.↩︎
Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen, wie man eine solche Psychodynamik für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie erstellen kann. Ich orientiere mich im Folgenden an Jungclaussen (2018)↩︎
Was die Reparatur von Gitarren angeht, möchte ich guitarmaking: Tradition and Technology von William R. Cumpiano und Jonathan D Natelson empfehlen. Darin geht es zwar weniger um die Reparatur und vielmehr um das Bauen von klassischen und Western-Gitarren. Aber genau deswegen findet man in diesem Buch alles, was man braucht.↩︎
Beim Verfassen der Psychodynamik von Konfliktstörungen orientiere ich mich an den sieben Schritten, wie sie im Handbuch Psychotherapie-Antrag von Ingo Jungclaussen (2018) vorgeschlagen werden.↩︎