Schritt 1: Die frühe Biographie

Durch welche (frühen) Entwicklungsbedingungen und wiederkehrenden Beziehungsmuster sind die psychische Störung und ihre zugrundeliegenden psychodynamisch wirksamen Kräfte lebensgeschichtlich entstanden und als Disposition verankert?1


Meine Gitarre ist zwischen 60 und 70 Jahre alt, denke ich mir. Mitte des 20en Jahrhunderts. Sicherlich nicht später als 1960. Als einzigen Hinweis finde ich im Schalloch einen Aufkleber. Darauf steht:

Qualitätsmarke
ROA
empfiehlt sich von selbst.
Robert Oswald Adler
Musikinstrumente
Markneukirchen
861

Markneukirchen liegt in Sachsen und ist ein Ort, dessen Geschichte eng mit Instrumentenbau verbunden ist. Kommt mein Instrument aus den 1950er Jahren, würde es sich um eine DDR-Produktion handeln. Aus dieser Zeit ist vielen auch heute noch die Marke MUSIMA ein Begriff - ein Kürzel aus MUSikinstrumentenbau MArkneukirchen - nach dem gleichnamigen und 1953 gegründeten “VEB Musikinstrumentenbau Markneukirchen”.

Im Schalloch: ein Aufkleber

Mein erster Gedanke: Robert Oswald Adler verkaufte in seinem Laden in Markneukirchen Musikinstrumente. Punkt. ROA assoziiere ich mit Rumänien. Also wurde meine Gitarre - die mir eher wie Stangenware vorkommt - in Rumänien hergestellt. Es ist nicht unüblich aus der Zeit, dass billigere Instrumente aus Einzelteilen unterschiedlicher Zulieferer zusammengebaut wurden. Wenn es da nicht richtig passt, entsteht Spannung. Und dann entstehen Risse. So könnte es sein.

Damit liege ich ziemlich daneben.

Die Gitarre unter den Holzblasinstrumenten

ROA - wie ich im Forum des Musikinstrumentenmuseums Markneukirchen erfahre - ist einfach die Abkürzung des Namens auf dem Etikett: Robert Oswald Adler.2 Und dieser Herr Adler hat kein Geschäft für Musikinstrumente betrieben, sondern war Instrumentenbauer. Die von Adler 1890 oder 1891 gegründete Manufaktur ROA war auf Holzblasinstrumente spezialisiert. Mit zeitweise bis zu zehn Gesellen ein mittelständiges Unternehmen, das bald auch nebenher mit Musikinstrumenten aller Art handelte. 1961 stellte ROA die Produktion ein, die Firma wurde aufgelöst3.

Die Frage, ob ROA selber Gitarren hergestellt hat, kann ich nicht beantworten. Es wäre also immer noch durchaus möglich, dass die Gitarre zu DDR-Zeiten sozusagen als “White Label” Produkt angeliefert wurde - und ROA einfach sein Etikett draufgeklebt hat.4

Von der DDR in die Weimarer Republik

Irgendwann zwischen 1890 und 1961 kam meine Gitarre also in die Welt. In Markneukirchen ist das nur ein kleiner Ausschnitt der Geschichte der Vogtländischen Musikinstrumentenindustrie. Denn Markneukirchen hat eine sehr lange Geschichte des Instrumentenbaus. Begonnen hat diese gegen Ende des 17. Jahrhunderts mit einem Dutzend Geigenbauern. Aber schon um 1700 gab es Werkstätten für alle Arten von Orchesterinstrumenten. Ich brauche also mehr Infos, um die Suche einzuschränken.

Auf dem Etikett im Schallloch steht die Nummer “861” unter “Markneukirchen” mit der ich erstmal herzlich wenig anfangen kann. Dem Forum des Musikinstrumentenmuseums Markneukirchen entnehme ich, dass es sich dabei um die Hausnummer der Firma Adlers handelt, in der damaligen Klingenthaler Straße 861.5 Und an gleicher Stelle erfahre ich, dass in Markneukirchen 1936 die Einteilung der Hausnummern umgestellt wurde. Damit kann ich wieder ein paar Jahre von der Uhr nehmen.

ROA-Etikett mit kompletter Adresse in einer Mandoline von Robert Oswald Adler aus Markneukirchen, gefunden auf http://deerbe.com

Meine Gitarre ist also aus der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts und sicherlich nicht aus der ehemaligen DDR. Das Instrument ist mindestens 85 Jahre alt und stammt eher aus den 30er Jahren der Weimarer Republik.

In meiner Phantasie entsteht ein neues Bild über die Risse in meiner Gitarre.

Ich stelle mir den Familienbetrieb ROA in der Weltwirtschaftskrise vor. Der Crash von 1929 in der USA bleibt auch in Deutschland nicht ohne Folgen. Deutschland hatte zu der Zeit eigene wirtschaftliche Problemen und die von der USA zurückgeforderten Kredite haben die Situation verschärft.

Die Firma ROA - spezialisiert auf Holzblasinstrumente - muss sich diversifizieren, um Kosten zu decken und liquide zu bleiben. Es werden Instrument hergestellt, die eine größere Kundschaft finden - und günstiger herzustellen sind. Dazu gehören auch Gitarren.

So kommt meine Gitarre in die Welt. Nicht als Wunschkind, sondern geboren aus Notwendigkeit. Nicht mit viel handwerklicher Liebe und Wissen, sondern schnell und kosteneffektiv hergestellt. Dazu kommen in meiner Phantasie noch Engpässe in der Zulieferung von Materialien. Die Decke der Gitarre war einfach noch nicht trocken, als sie verbaut wurde. Kein Wunder, dass im Laufe der Zeit irre Kräfte an diesem zarten Holz zerren.

So könnte es sein. Aber es gibt noch einen zweiten Text auf dem Etikett, der mich nocheinmal woanders hinführt: Josef B. Scholz Elberfeld

5 Pfennig am Ende des 19ten Jahrhunderts

Der Name Josef B. Scholz auf dem Etikett betreibt eine Spezialfabrik für Etiketten und Siegelmarken in Wuppertal-Elberfeld. Wuppertal-Elberfeld bestärkt die Theorie, dass die Gitarre nicht aus der DDR stammt. Etiketten für Instrumente aus Markneukirchen in Sachsen wären zu DDR-Zeiten wahrscheinlich nicht in Wuppertal-Elberfeld in Auftrag gegeben worden.

Spezialfabrik für geprägte Etiketten und Siegelmarken von Josef B. Scholz aus Wuppertal-Elberfeld

Meine Hoffnung wäre, dass ich einen Hinweis darüber finde, wann Josef B. Scholz die Etiketten-Fabrik gegründet, bzw. sich in Elberfeld niedergelassen hat.6 Damit hätte ich ein Zeitfenster zwischen dem Jahr X und 1936 in dem meine Gitarre hergestellt wurde.

Ich finde Briefe, Kataloge, Rechnungen des Fabrikbesitzers Josef B. Scholz im Antiquariat und Portalen für Sammler/innen. Auf den meisten Dokumenten sind keine Jahreszahlen. Aber die Rechnungen und Briefe, die ich finden kann, liegen alle zwischen 1933 und 1950.

Eines dieser Dokumente führt mich noch einmal in eine ganz andere Zeit. Es handelt sich um einen Briefumschlag mit einem Etikett, das in Farbe und Font dem meiner Gitarre sehr ähnlich ist. Der Umschlag ist bedruckt. Der Aufkleber für einen Betrieb aus Leipzig, genau ist es nicht zu erkennen. Dort steht “Drucksache” und wo die Marke hinkäme “5 Pf.”.

Diese Etiketten auf einem Umschlag führt meine Recherche noch weiter in die Vergangenheit.

Ich finde eine Quelle, die belegt, dass der “Portosatz von 5 Pf. für Drucksachen von 50g bis 100g (…) am 1. Juni 1890 eingeführt” wurde.7

Weder das Design der Gitarre noch die Schrift des Aufklebers verbinde ich mit dem späten 19ten Jahrhundert. Aber die Spur führt nach 1890. Und bei meiner Recherche lerne ich, dass Ende des 19. Jahrhunderts die Frakturschrift zunehmend von den deutlich runderen Formen der Antiqua abgelöst werden.8

Zeitgleich erschienen die freieren und experimentellen Schriften der Epoche des Art Nouveau wie z.B. Eckmann-Type des Gestalters Otto Eckmann aus dem Jahre 18999, die dem Font des Aufklebers ähnlicher sind. Sollte die Gitarre also wirklich so alt sein? Ein Kind des Jugendstils?

Der 1899 erschienene Eckmann-Type des Gestalters Otto Eckmann entspricht im Wesen meinem Gitarren-Etikett mehr als die Frakturschrift den 19ten Jahrhunderts.

Das würde die frühe Biographie meiner Gitarre noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lassen. Warum hat ein Holzblasinstrumentenbauer kaum zehn Jahre nach der Firmengründung Gitarren gebaut?

Die Gitarre in meinen Händen ist, wie ich schon mehrfach gesagt habe, wirklich kein Meisterwerk. In den Feuern der Liebe für Gitarrenbau wurde sie nicht geschmiedet. Als Instrumentenbauer mit Geschäftssinn ist es jedoch durchaus vorstellbar, dass ROA Ende des 19. Jahrhunderts auf den Trend der “Zupfgeige” aufgesprungen ist. Wandern, Singen, Volkslieder waren in dieser Zeit ein Trend - nicht nur in der Jugendbewegung Wandervogel - und die Gitarre war das ideale Instrument zur Liedbegleitung für unterwegs. In dieser Zeit gab es geradezu einen Innovationsschub, was Gitarrendesigns anging.10 Markneukirchen war um das Jahr 1900 führend im Instrumentenbau. Etwa 50 Prozent der weltweiten Instrumenten- und Bestandteilproduktion stammen aus der Gegend.11

Zurück in die 30er Jahre

Gründung und Liquidation der Etikettenfabrik von Jakob B. Scholz kann ich nicht finden. Was mir jedoch in die Finger kommt ist der Kauf des Fabrikgeländes in Elberfeld durch einen gewissen Bruno Scholz.

1935 erwarb der Etiketten-Fabrikant Bruno Scholz das Fabrikgelände Königstraße 139-141.12 Die Königstraße liegt in Wuppertal-Elberfeld und wurde 1946 in Friedrich-Ebert-Straße umbenannt - nach dem ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik.13 Auf neueren Briefbögen aus den 1950er Jahren lautet die Adresse der Etikettenfabrik von Josef B. Scholz: Wuppertal-Elberfeld, Fabrik in der Friedrich-Ebert-Str. 143.

So führt die Spur wieder zurück in die 1930er Jahre, genauer gesagt nach 1935/36, nachdem die Etikettenfabrik in Elberfeld eröffnete wurde und bevor in Markneukirchen die Hausnummern neu vergeben wurden.

So lasse ich das jetzt mal stehen. Auch wenn die Spur des Briefumschlags mit “5 Pf.” nicht wirklich vom Tisch ist. Bei frühkindlichen Ereignissen und Erinnerungen in der Anamnese bleiben Fakten manchmal unscharf und werden nicht vollends geklärt.

Die frühkindliche Biographie

Im Bericht werden Teile der frühen Biographie wieder auftauchen. Nur Elemente, die zur Psychodynamik passen und nur da, wo sie passen.

  • Meine Gitarre stammt aus den 1930er Jahren, den Jahren nach Beginn der Weltwirtschaftskrise.
  • Sie wurde zwischen 1935 und 1936 in Markneukirchen hergestellt.
  • Als zusätzliches finanzielles Standbein fertigen Instrumentenbauer Gitarren an.
  • Diese sind schnell herzustellen und deshalb kosteneffektiv.
  • Gleichzeitig ist die Nachfrage größer, es kann also mehr verkauft werden.
  • Das Familienunternehmen, aus dem sie stammt ist eigentlich auf Holzblasinstrumente spezialisiert.
  • Als Holzblasinstrumentenbauer wurde die Gitarre nicht aus innerer Berufung, mit viel handwerklicher Liebe und Wissen hergestellt.
  • Ob die Gitarre überhaupt dort hergestellt wurde oder woanders ist nicht zu klären.
  • Es wäre möglich, dass der Aufkleber das einzige ist, was aus dem Haus ROA kommt.
  • In der allgemeinen wirtschaftlichen Not sind die zugelieferten Materialien von geringer Qualität.

  1. Die einleitenden Absätze zu jedem Kapitel sind Zitate aus dem Buch Handbuch Psychotherapie-Antrag von Ingo Jungclaussen. (2018: 174).↩︎

  2. Florian (2008)↩︎

  3. Im gleichen Jahr gründete der Enkel Robert Oswald Adlers - Gottfried Meinert - den Nachfolger, die Firma “Fa. Gottfried Meinert”, die ebenfalls auf Holzblasinstrumentenbau spezialisiert war.↩︎

  4. Beim Verkauf einer Waldzither erfahre ich vom Käufer über unseren Ebay-Thread Interessantes zum Thema White Label Zulieferer von Instrumenten: Im Vogtland und Sudetenland wurde wohl sehr viel arbeitsteilig produziert. Viele Werkstätten für Instrumente und Instrumententeile saßen in Schönbach. Die Händler in Markneukirchen, die die die fertigen Instrumente dann unter ihrem Namen verkauften, machten das große Geld - viele Millionärsvillen in Markneukirchen zeigen das noch heute.↩︎

  5. Weller (2016)↩︎

  6. Der Ort spielt heute immer noch eine Rolle in Elberfeld. Hier steht heute “Besuchern aus Wuppertal und Umgebung ein historisches Industrieanwesen mit beeindruckender Ziegelsteinfassade für Sport, Freizeit, unterschiedlichsten Veranstaltungen im Bergischen Land zur Verfügung” (Zitat von der Website, abgerufen 23. Oktoeber 2020) https://www.altepapierfabrik.eu↩︎

  7. U. Meyer (2013 Erste Auflage: Berlin 1908. S.327)↩︎

  8. Wikipedia (2020a)↩︎

  9. Typografie.info (2020)↩︎

  10. So stammt auch die Hamburger Waldzither mit ihrem kompakten Design und robusten Verarbeitung aus dieser Zeit. Siehe Feinendegen (2020)↩︎

  11. Wikipedia-Referenz (1984)↩︎

  12. stadtgeschichte-wuppertal.de (2020)↩︎

  13. Wikipedia (2020b)↩︎