Psychodynamik in der Gitarrenwerkstatt (5/8)
Schritt 4: Die Kompensation
Während die Neurosenstruktur die früh erworbene charakterliche Anpassung an den Grundkonflikt meint, beschreibt die Kompensation den bis heute andauernden beruflichen und privaten Lebensstil, der maßgeblich zu einem (neurotischen) Gleichgewicht beiträgt.1
Jetzt, wo wir den Grundkonflikt und die Neurosenstruktur im Kasten haben, können wir die folgenden Schritte fast schon im leichten Dauerlauf bewerkstelligen. Denn - darum geht es ja im Bericht - die Elemente stehen alle miteinander in Verbindung und bauen aufeinander auf.
Meine Gitarre ist kein Juwel sondern in erster Linie solide gebaut, in anderen Worten: “nicht aus Zucker”. Was stellt eine solche Gitarre mit ihrem Leben an, um glücklich zu werden? Konzerte vor Feuilleton-Publikum wird sie keine spielen. Das ist ganz tief in ihr eingeschrieben, daran denkt sie nicht einmal. Aber was ist ihr Platz in der Welt? Wie findet auch dieses Instrument die Liebe, die es verdient?
Ein Blick auf die Gitarre und einer in die Gitarre helfen uns da weiter. Neben dem Aufkleber, der uns bei der Recherche für die frühe Biographie so wichtig war, finden wir die beiden Buchstaben H und M. Auf den ersten Blick dachte ich, dass die Buchstaben mit Filzstift auf das Holz gemalt wären. Bei genauerem Hinsehen sieht man, dass sie eingebrannt wurden, wahrscheinlich mit einem Lötkolben. Sozusagen für die Ewigkeit. Und ein Blick auf die ersten Bünde der Gitarre offenbart die Tiefen Furchen im ersten Bund der H-Saite und - wenn auch nicht ganz so stark - im ersten Bund der hohen E-Saite.
Kompensation: liebenswertes Arbeitstier
Dieses Instrument wurde nicht für seinen feingeistigen Klang geliebt. Die Gitarre wurde geliebt als Arbeitstier. Sie war überall dabei, immer zuverlässig, hat sich nie beschwert, hat alles ausgehalten und einfach nur ihre Arbeit gemacht.
In meiner Phantasie sehe ich einen Menschen mit den Initialien H. M. der/die sich so tief zu dieser Gitarre verbunden fühlt, dass er/sie sich die Mühe macht seine Initialien im Instrument zu verewigen wie Liebende in der Rinde eines Baumes.
H.M. war allem Anschein nach kein/e Virtuose/in auf der Gitarre. Anhand der Kerben im ersten Bund gehe ich davon aus, dass auf der Gitarre am häufigsten die Akkorde C-Dur und F-Dur gegriffen wurden. C-Dur ist der Grundakkord schlechthin. Und das hohe C darin wird im ersten Bund der H-Saite gegriffen. F-Dur ist ein häufiger Akkort in Liedern in C-Dur. Dabei werden sowohl die H- als auch die hohe E-Saite im ersten Bund gedrückt.
Ich sehe eine sehr aktive, lebensfrohe Person, der/die gerne und viele Lieder spielt, wahrscheinlich alleine oder mit anderen dazu singt. Die Lieder sind alle nicht kompliziert, die meisten in C-Dur. Und auch wenn H.M. sehr viel spielt, verlässt seine/ihre linke Hand die ersten drei Bünde eigentlich nie.
Was für die folgende Logik der Psychodynamik enorm wichtig ist: Die Gitarre war so sehr im Leben von H.M., dass sie in den gleichen Räumen lebte, in der gleichen wohltemperierten Behaglichkeit. Warum das so wichtig ist, wird sich in den folgenden zwei Schritten klären.
Meine Gitarre hatte durchaus ein erfülltes Leben. Sie ist ’rumgekommen, wurde geliebt, gespielt und hat anderen Freude bereitet. Wenn ich mir das so vorstelle, macht mich das auch sehr glücklich.
Im Bericht schreibe ich kurz und unromantisch:
Durch ihre Zuverlässigkeit und Kompromissbereitschaft präsentierte sich die Gitarre als immer verfügbar und einsatzbereit. Als “Arbeitstier” vermochte sie teilweise ihr ungestilltes Bedürfnis nach Idealisierung nachzuholen, welches ihr durch die Frustration von Selbstobjektbedürfnissen und dem damit verbundenen fehlen des idealisierten Elternimagos versagt blieb. Über die intensiven Arbeitsbeziehungen kompensierte sie äußerlich erfolgreich ihr Entwicklungsdefizit, da die Gitarre auf diesem Weg anerkennendes Spiegeln und über gefühlsmäßige Resonanz bekam.
Jungclaussen (2018: 194)↩︎